Im Herbst können wir auf Vogelarten stoßen, die wir in der übrigen Zeit des Jahres nicht so häufig oder überhaupt nicht beobachten können. Wenn sich die Zugvögel unter unseren heimischen Vögeln auf den Weg in wärmere Gebiete begeben, um dort ihren Lebensunterhalt mit Weichfutter, also Insektennahrung, zu bestreiten, kommen andere Vogelarten, vornehmlich aus nordischen Gefilden als Wintergäste zu uns. Der Grund des Vogelzuges ist nicht, wie meist angenommen, die kältere Jahreszeit, sondern der Mangel an entsprechender Nahrung.
Vogelarten wie z. B. unsere Meisen gehören zu den sogenannten Gemischtköstlern, d.h. in der warmen Jahreszeit ernähren sie sich von Insekten und Würmern (Weichfutter), während sie sich in der Zeit, wo die Insektennahrung versiegt auf Körner (Sämereien) und Beeren umsteigen. Körnerfresser dagegen finden zu jeder Jahreszeit die für sie erforderliche Nahrung und können demzufolge ganzjährig in ihrer Brutheimat verbleiben. Zu ihnen gehören u. a. Grünfink, Stieglitz, Bluthänfling, Gimpel und natürlich unsere beiden Sperlingsarten. Die meisten nicht ziehenden Vögel sind folglich Körnerfresser oder Gemischtköstler. Sie verbleiben ganzjährig in ihrer Brutheimat, während die reinen Insektenfresser ihrem Futter hinterher fliegen müssen. Die meist zur Gruppe der Singvögel gehörenden Vogelarten, die bei uns als Wintergäste aus dem hohen Norden auftreten, sind meist Beerenfresser.
Dazu gehört auch die Wacholderdrossel (Turdus pilaris). Alte volkstümliche Bezeichnungen für die Wacholderdrossel sind Krammetsvogel (von Krammet für Wacholder) oder Krummetvogel.
Zu den recht spärlich bei uns beheimateten Wacholderdrosseln gesellen sich im Winterhalbjahr mehr oder weniger große Schwärme aus Skandinavien, die sich bei uns niederlassen und sich über Wacholder-, Sanddorn-, Holunder- oder Vogelbeeren hermachen.
Die Wacholderdrossel ist mit bis zu 25 cm etwa so groß wie eine Amsel, erscheint allerdings schlanker. Der Kopf, Nacken und Bürzel haben eine blaugraue Färbung, Rücken und Schwanz sind braunschwarz, die Brust ist drosseltypisch gefleckt. Der Kopf zeigt einen deutlichen weißlichen Überaugenstreif. Der Schnabel ist im Winter dunkelbraun, während er sich in der Brutzeit horngelb, gelborange oder rötlichgelb mit bräunlicher bis schwarzbrauner Spitze verfärbt. Die Wacholderdrossel ist, verglichen mit den anderen Drosseln Mitteleuropas, auffallend bunt. Beide Geschlechter haben ein gleiches Aussehen. Der Gesang sowie der Warnruf sind ein leicht erkennbares tschack tschack tschack, ähnlich wie eine Rassel.
Die Brutgebiete der Wacholderdrossel erstrecken sich durch die kühleren Bereiche von Sibirien bis Westeuropa. Bevorzugt werden Wald- und Buschland mit angrenzenden Wiesen. Im Gegensatz zu den übrigen Drosseln wird das Nest am liebsten auf alten Bäumen, meist in Stammgabelungen oder auf einem starken Ast am Stamm, aber auch weit von diesem entfernt auf ausladenden Ästen errichtet. In Mitteleuropa variiert die Standhöhe (von den wenigen Bodennestern abgesehen) zwischen 0,9 und 25 m. Boden- und Felsbruten finden sich vor allem in baumloser Umgebung in Grönland, Skandinavien und an der Murmanküste, ausnahmsweise auch im Alpenraum.
In zunehmender Zahl brüten Wacholderdrosseln auch in Mitteleuropa, dabei sogar in Parks und Gärten. Sie bevorzugen eine lockere Koloniebildung, d. h. mehrere Paare nisten auf Bäumen mehr oder weniger dicht beieinander. Vermutlich zum Schutz vor Nesträubern wie Krähen oder Elstern.
Die Wacholderdrosseln führen eine monogame Saisonehe. Ähnlich wie bei der Singdrossel wird die Nestmulde mit Lehm ausgekleidet, doch ist immer noch etwas Gras zur Auspolsterung vorhanden. Die Nester sind sehr widerstandsfähig gebaut, so dass freistehende Nester des Vorjahres von keiner anderen Drosselart so oft wiederverwendet werden wie die widerstandsfähigen Nester der Wacholderdrossel. Daraus darf jedoch nicht auf eine Brutortstreue geschlossen werden.
Im Mai werden fünf bis sechs dunkelgrüne mit rotbraunen Tupfen versehene Eier in 12 bis 14 Tagen nur vom Weibchen bebrütet. Es kommt oft zu einer zweiten Brut. Auch die Nestlinge werden bis zum Alter von 9 bis 10 Tagen nur vom Weibchen gehudert, danach aber von beiden Eltern gefüttert.
Am 1./2. Lebenstag der Nestlinge übergibt das Männchen kleine Regenwürmer meist dem hudernden Weibchen, das sie zu einem Futterballen zerquetscht, ins Nest legt und schließlich den Jungen in winzigen Portionen anbietet. Die Jungvögel können mit 18 Tagen schon gut fliegen, mit etwa 30 Tagen sind sie selbstständig.
Oft werden die Nester der Wacholderdrosseln von anderen Vögeln geplündert. Der Großteil der Verluste geht auf das Konto von Rabenkrähe, Elster und Eichelhäher, aber auch Wespenbussard, Waldohreule, Eichhörnchen und Hauskatze. Als Feinde erwachsener Wacholderdrosseln sind vor allem Habicht, Sperber, Wander-, Baum- und Turmfalken sowie Waldohreule und Waldkauz nachgewiesen.
Wacholderdrosseln achten auch sehr auf Hygiene im Nest. Der Kot der Jungen wird in den ersten Tagen in der Regel von den Eltern gefressen, später mehr und mehr weggetragen und erst in ziemlich weiter Entfernung vom Nest auf einem Ast oder am Boden abgelegt, seltener fallengelassen. Auch einem über den Nestrand geschossenen Kotballen der Jungen fliegen die Eltern sofort nach, um ihn unter dem Baum aufzulesen, damit der Neststandort gegenüber Feinden nicht verraten wird.
Die Wacholderdrossel sucht ihre Nahrung sehr ähnlich der Amsel; sie hüpft eine Strecke am Boden, hält inne und pickt dann im Boden. Während der Brutzeit und Nestlingsaufzucht bilden vor allem Regenwürmer und Insekten, insbesondere Käfer, Schmetterlingslarven, Heuschrecken, Ameisen, gelegentlich Schnabelkerfe, Weberknechte, Spinnen sowie Schnecken den Hauptteil der Nahrung aus. Ab Mitte Juni beginnt der Verzehr von Beeren und anderen Früchten, deren Bedeutung im Herbst und vor allem an winterlichen Frosttagen, wenn tierische Nahrung nicht mehr in genügender Menge verfügbar ist, steigt.
Anzumerken ist, dass bei ausreichendem Nahrungsangebot die Wacholderdrossel zwar Temperaturen bis -30°C erträgt, aber je nach Populationsgröße, Beerenangebot und Strenge des Winters ihr Brutgebiet verlässt und dann auch in unserer Gegend vermehrt beobachtet werden kann. Gemeinsam gehen sie auf Futterflüge. An die Futterstelle können wir sie gewöhnen, wenn wir, sobald der Schnee da ist, Äpfel für die Wacholderdrosseln in den Garten auslegen. Die Äpfel werden auch von anderen Drosseln und von den Staren im Winter gut angenommen. Als Winterfutter sind auch Rosinen möglich. Der mit Abstand älteste Vogel, dessen Alter durch die Beringung mit 18 Jahren und 7 Tagen angegeben wird, stammt aus Finnland.
Klaus Rost